Malerische Dörfer aus weißem Marmor, kunstvolle Taubenhäuser und wundersame Legenden um die Ikone der Panagia Megalochari, der gnadenreichen Jungfrau, bezaubern den Besucher der Kykladeninsel Tinos.
Im dritten Jahrhundert v.Chr. war sie durch das Heiligtum von Poseidon und Amphitrite ein religiöser Mittelpunkt der Kykladen. Seit Anfang des 19. Jh. ist sie ein Zentrum der griechischen Orthodoxie.
Die weiße, strahlende Marmorkirche über der Stadt Tinos begrüßt die anreisenden Schiffe von weitem. Panagia Evangelistria ist die größte und prächtigste Kirche in Griechenland und der wichtigste Wallfahrtsort des Landes. Zu den Marienfesten am 25. März und am 15. August strömen tausende Pilger in die Inselhauptstadt Tinos, viele von ihnen legen die Strecke vom Hafen aus die tausend Stufen zur Kirche hinauf unterwürfig auf Knien rutschend zurück. Wie im französischen Lourdes erhoffen sich die Gläubigen Heilung von jeglichem Gebrechen durch die wundertätige Marien-Ikone und das wundersame Quellwasser.
Legende und Geschichte
Das Ereignis, das die Insel in den Rang der wichtigsten Wallfahrtsstätte Griechenlands erhob, fand am 30. Januar 1823 statt, als man die Ikone der Muttergottes fand. Die Nonne Pelagia vom nahe gelegenem Kloster Kechrovouni hatte davor einen Traum, in dem sie von der Gottesmutter aufgefordert wurde, an einer bestimmten Stelle eines Ackers nach dem Bild zu graben.
Bei der Grabungsaktion legten die Einwohner die Ruinen der alten, abgebrannten Johanneskirche frei, und fanden tatsächlich eine kleine Ikone, 20 mal 30 Zentimeter groß. Sie soll vor mehr als 1800 Jahren vom Apostel Lukas gemalt worden sein.
An der Fundstelle der Ikone wurde im gleichen Jahr die Verkündigungskirche gebaut. Bei der Grundsteinlegung sei Quellwasser entsprungen, so die Überlieferung, dem heilende Wirkung zugeschrieben wird.
Jedenfalls konnten die Griechen zu dieser Zeit des Unabhängigkeitskampfes gegen das osmanische Reich diese Wunder gut brauchen. Die Panagia Evangelistria wurde zum Symbol der Befreiung von der jahrhundertlangen Türkenherrschaft. Die Nonne Pelagia wurde im Jahr 1971 heilig gesprochen und Tinos zur "Heiligen Insel" erklärt. So entwickelte sich Tinos zu einem "griechischen Lourdes".
Nahe der Wallfahrtskirche befindet sich das Archäologische Museum der Insel-Hauptstadt. Zu besichtigen sind Fundstücke vom Poseidon-Heiligtum, eine antike Sonnenuhr und Funde von Ausgrabungen in Exobourgo. Zum Ort des Poseidon-Heiligtums und seiner Gattin, der Meeresgöttin Amphitrite, führt ein Spaziergang von Tinos-Stadt am westlichen Ufer entlang.
Das Kloster Kechrovouni, das neun Kilometer nördlich der Hauptstadt Tinos entfernt ist, wurde im 9. Jh. gegründet, gewidmet ist es der "Theotokos, Karia ton Angelon", der Gottesmutter, Herrin de Engel. Heute ähnelt es einem kykladischen Dorf, mit weißen Gebäuden, Kapellen, engen Gassen und Treppen, alles liebevoll mit Blumen geschmückt.
Hier leben heute etwa 50 Nonnen. Im Zentrum der Anlage ist die Zelle der Nonne Pelagia.
Die alte Inselhauptstadt lag in der Antike und in venezianischer Zeit (1207 bis 1712) im Inselinnern, am Hang des Berges Exobourgo. Auf antiken Mauern errichteten hier die Venezianer eine mächtige Festung, von der noch Überreste zu sehen sind.
Auf die Venezianer gehen auch die inseltypischen, turmartigen "Peristerones" (Taubenhäuser) zurück, die zum Wahrzeichen der Insel wurden, da es noch heute mehr als 800 davon gibt, die meisten davon im Gebiet um Exobourgo. Die schönsten der zweistöckigen Türme sind bei Kampos und im Tal von Tarambados.
Der Bau der Taubenhäuser geht zurück auf ein im 13.Jrh. von den Venezianern eingeführtes Gesetz, das den Landbesitzern das Recht gab, Taubenhäuser zu bauen um Tauben zu züchten.
Um den Zuchterfolg zu garantieren, mussten beim Bau der Türme ganz bestimmte Regeln beachtet werden. Das begann bei der Auswahl des Platzes, da die Vögel nur an Stellen ihr Nest bauen und brüten, an denen sie sich sicher fühlen. Zum Schutz vor den stürmischen Nordwinden besitzen die Peristerones nur an den drei windabgewandten Seiten Einfluglöcher. Außerdem mussten die Tauben und ihre Brut vor ihren natürlichen Feinden wie Schlangen und Katzen geschützt werden, deshalb wurden die Einfluglöcher mindestens zwei Meter über dem Boden angebracht. Das so entstehende Erdgeschoß wurde als Vorrats- oder Lagerraum genutzt. Die Außenwände sind bis zur Höhe der Einflugöffnungen glatt verputzt, damit sie weder von Mensch noch Tier erreicht werden können. In das eigentliche Taubenhaus führt eine innen angebrachte Leiter.
Die besondere Attraktivität dieser kunstvollen Bauten machen aber die mit aufwendigen und vielfältigen Dekorationen verzierten oberen Stockwerke aus. Im Mauerwerk der Fassade wurden regelmäßige Öffnungen ausgespart, in die dünne Schieferplättchen oder gebrannte Tonziegel eingefügt wurden. Die Muster sind meist geometrisch, oft kombiniert mit den stilisierten Sonnen und Zypressen, den Symbolen von Leben und Tod. In manchen Türmen finden sich unter den Verzierungen sogar die Initialen des Besitzers. So ist jeder einzelne Turm ein individuelles Kunstwerk, gebildet aus der Phantasie des Erbauers und der Kunstfertigkeit der Handwerker.
In der Zeit der türkischen Besetzung der Insel entwickelten sich die eingelegten Täubchen aus Tinos zum Exportschlager und waren sehr begehrt auf den Märkten von Istanbul.
Heute bereichern die gebratenen Täubchen in erster Linie die Festtagsessen der Tinioten. Der Taubenmist wird nach wie vor genutzt als natürlicher Dünger für die Felder.
Einer alten Überlieferung nach sollte jeder tiniotische Grundbesitzer entweder eine Kapelle oder ein Taubenhaus erbauen. Wie so oft, haben der Rückgang der Landwirtschaft und die modernen Baustoffe jedoch dazu geführt, dass mit einer alten Tradition gebrochen wurde. So sind heute leider einige der schönen Taubentürme dem Verfall preisgegeben, andere wurden aber liebevoll renoviert und erzählen so dem Besucher ein Stück von der Geschichte der Insel Tinos.
In Kionia, nahe Tinos-Stadt, wird der Besucher ins dritte Jahrtausend v.Chr.. versetzt. Ausgrabungen zeugen von einem der größten kultischen Zentren der Kykladen.
Liebhaber der Volkskunst kommen beim Besuch des Klosters Moni Agia Triada (1610) auf ihre Kosten.
Die Panormos-Bucht im Norden ist bei Rucksacktouristen sehr beliebt – und die wissen bekanntlich, wo es schön ist.
Der Marmor und das Kunsthandwerk
Im Nordwesten der Insel, in der Gegend von Isternia und Pyrgos wird weißer und bei Marlas grüner Marmor abgebaut, exportiert oder auch vor Ort verarbeitet. Die Kunst der tinischen Steinmetze hat lange Tradition und auf dem ganzen Festland bekannt. Hier, in den "Marmordörfern", kann man den Handwerkern zuschauen. Pirgos, das schönste Dorf der Insel, ist als Dorf der Bildhauer bekannt und verfügt über eine Bildhauerschule. In den Sommermonaten kann man Workshops und Kurse besuchen.
Im Wohnhaus des bekannten Bildhauers Chalepas in Pirgos ist ein Museum eingerichtet.
Die alte Kunst der Korbflechterei aus dunkelroten Ruten einheimischer Sträucher, die in den Dörfern Skadalos und Koumaros praktiziert wurde, droht leider auszusterben.