Vor lauter Lebensfreude zu sterben vergessen
Ikaria gehört zu den Blue Zones, das sind Gemeinschaften, in denen Senioren mit Elan und Vitalität bis in ein Rekordalter leben. Dan Büttner, ein amerikanischer Gesundheitsguru hat den Begriff Blue Zones geprägt und zusammen mit National Geografic in Ikaria mehrere Studien durchgeführt. Aber dazu komme ich weiter unten. Erst einmal ein paar Worte zur Insel selbst, denn ihre Geschichte hat maßgeblich das Lebensgefühl der Bewohner geprägt.
Als ich vor dreißig Jahren nach Ikaria auswanderte, fragten mich viele: „Wohin? Italia?“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Insel Ikaria ist den meisten unbekannt und vielleicht liegt genau darin ihr Charme.
Ein alter Mann sagte einmal zu mir: „Sie ist wie eine schöne unbekannte Frau.“ Sie – im Griechischen spricht man liebevoll von ihr, Ikaria ist weiblich. „Zuerst erscheint sie einem abweisend und unnahbar, aber macht man sich die Mühe auf sie zuzugehen, wird man erst ihrer unglaublichen wilden Schönheit gewahr und erliegt sofort ihren Reizen!“
Die schöne Unbekannte
Ich hör sie schon, die Unkenrufe: Bloß keine Werbung machen! Wenn du darüber schreibst, dann wird sie bekannt und dann ist sie nicht mehr schön!
Ja klar, sag ich, am besten keinen Flughafen, keine Asphaltstraßen, kein Strom, kein Internet und was auch immer. Die Einheimischen sollten (das ganze Jahr) wie vor 100 Jahren leben, (und zwar von Luft und Liebe, denn von Fischerei und Landwirtschaft kann man nicht mehr überleben!) damit ihr einen coolen Geheimort für zwei Wochen Urlaub habt! Die Arbeitslosigkeit oder Abwanderung der Jugend? Wie? Aber spätestens wenn jemand von euch einen Arzt braucht, findet man die „hinterwäldlerischen Zustände“ nicht mehr lustig…
Sorry, genau deswegen schreibe ich und mache Werbung für Ikaria! Denn die Gefahr, dass Ikaria jetzt vom Massentourismus überrannt wird, ist meiner Meinung nach sehr klein. Allein schon der Verbindung mit dem Festland wegen. Man muss sich wirklich die Mühe machen, hierher zu wollen und einige Kompromisse eingehen. Das tut eh nur, wer bereit ist, von der gewohnten Konsum-All-inclusive-Service-Welt Abstriche zu machen.
Also sind wir wieder unter Gleichgesinnten, Natur- und Kultur-Liebhaber, Fans des ursprünglichen Griechenlands, welche die lokale Bevölkerung und ihre ganz besondere Lebensweise schätzen und respektieren. Bingo!
Ein Stück authentisches Griechenland
Ikaria ist das gemütliche, unverfälschte Griechenland der 1970er. Die Menschen sind einfach, anfangs scheu, aber schnell offen und herzlich, und sie freuen sich immer über ein Schwätzchen, auch mit Touristen. Hier erlebst du noch den direkten Kontakt mit den Einheimischen und das nimmer endende Original-Nachtleben, oft mit Live-Musik in gemütlichen Tavernen, auf den Dorfplätzen an den Panigyria oder einfach unplugged in den kleinen Bars wie in guten alten Zeiten...
Jeder Tag ein Fest
Das gemeinsame Tanzen und die Ausgelassenheit sind keine Folklore, sondern gelebtes Brauchtum, und by the way, einfach ansteckend! Ikaria ist für seinen von Festlichkeiten geprägten Alltag weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Die Panigyria - traditionelle Tanzfeste -, werden von allen Generationen gemeinsam gefeiert und sind bis heute der Mittelpunkt allen kulturellen Geschehens. Die Lebensweise, die Musik und das Lebensgefühl ist aufgrund der geographischen Lage von der mediterranen wie von der orientalischen Kultur beeinflusst.
Ikaria hat etwas Magisches. Es bietet sich nichts auf dem Präsentierteller, alles offenbart sich dem Interessierten erst allmählich, auch die Menschen. Dafür findest du dich auf einmal in einer ganz anderen Welt wieder, einer Welt, in der die Natur, der Mensch und allem voran die Lebendigkeit im Mittelpunkt stehen.
Von den Piraten verfolgt
Ikaria ist eine bergige Insel in der Ost-Ägäis, nahe der türkischen Küste, etwa so groß wie der Bodensee und der höchste Berg geht auf 1100m ü.M. Die Südseite ist felsig, karg und steil abfallend, die Nordseite ist jedoch wasserreich üppig, fruchtbar und grün.
Mit einer Bevölkerungszahl von 8000 Einwohnern ist Ikaria nicht gerade dicht besiedelt. Genauer gesagt, muss man beim ersten Aufenthalt die versteckten Bergdörfer richtiggehend in der Landschaft suchen. Bei einem Ausflug ins dicht bewaldete Hinterland findet man meist nur eine Handvoll Häuser rund um den Dorfkern und denkt sich: „Ist das schon alles?“ Das restliche Dorf ist sozusagen unsichtbar. Das hat den Einwohnern im Mittelalter, als die Piraterie in der Ägäis epidemische Ausmaße angenommen hatte, das Leben gerettet. Während andere Inseln von Piraten regelrecht entvölkert und die Menschen an die Sklavenmärkte verschleppt wurden, versteckten sich die Einwohner Ikarias in den Bergen, tarnten ihre Häuser hinter riesigen Felsbrocken und machten sich einfach unsichtbar.
Ein Haus mit Meerblick war damals tödlich. Das ging so weit, dass der gesamte Hausrat bei Piratenalarm hinter dem Haus vergraben wurde, um den Eindruck der Verlassenheit zu erwecken. Deshalb findet man auf der ganzen Insel keine traditionelle Handwerkskunst. Es ging immer nur ums nackte Überleben. Deshalb auch die Verbundenheit zu ihrer Musik und den Tänzen. Es war das Einzige, was man immer zur Hand hatte und im Notfall mitnehmen konnte.
Überlebenskünstler bis heute
Ikaria hatte eine harte und schwere Vergangenheit. Die Lebenshaltung der Vorfahren reicht bis in die Gegenwart und verbindet die Menschen. Tradition, historische Fakten, Realität und Verklärung verweben sich zu einer eigenen Weltanschauung, in welcher Einfachheit, Gelassenheit, Freisinn, Großzügigkeit und Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielen. Die Ikarioten sind Überlebenskünstler geblieben, bis heute!
Nach dem 2. Weltkrieg, während der systematischen Verfolgung der Kommunisten Ende der 40er-Jahre, wurde die kommunistische Elite der Großstädte in verschiedene „Umerziehungslager“ deportiert oder auf Verbannungsinseln ausgesetzt. Ikaria war eine davon. Dünn besiedelt, schwer zugänglich und weit ab vom Schuss. Zwischen 10.000 und 15.000 Kommunisten, man bedenke, fast doppelt so viele wie die einheimische Bevölkerung, wurden während des griechischen Bürgerkriegs nach Ikaria verbannt. Die Exilkommunisten, an ein Leben in der Stadt gewöhnt, hatten im rauen Klima auf der abgelegenen wilden Insel kaum eine Überlebenschance.
Die Verbannungsinsel: Schön wie ein Rohdiamant
Die Ikarioten, selbst an ein karges Leben gewöhnt, solidarisierten sich sofort mit den Notleidenden, obwohl ihnen unter Todesstrafe jeglicher Kontakt verboten war. Sie hinterlegten den Verbannten versteckt in den Wäldern Nahrungsmittel, Kleidung und Decken, und so entstand eine innige Freundschaft und reger Gedankenaustausch, welcher bis heute die Insel inbrünstig rot, also kommunistisch wählen lässt. Das hat ihr den Namen „Der rote Fels“ eingebracht, für die Ikarioten ein Symbol dafür, sich Ungerechtigkeit zu widersetzen, sich selbst zu helfen und solidarisch mit anderen Notleidenden zu sein.
Mikis Theodorakis, der wohl berühmteste Verbannte, berichtet über sein Exil auf Ikaria: „Warm durchströmt es mich, wenn ich an Ikaria denke. Die Schönheit dieser Insel wie ein Rohdiamant und die einfache Herzlichkeit der Menschen. Sie öffneten ihre Häuser und ihre Herzen für uns.“
Leben im eigenen Rhythmus
So erlebe ich sie auch, die Ikarioten – harte Schale, weicher Kern. Herzliche Menschen, gemütlich, freundlich, im eigenen Rhythmus lebend.
Ikarioten haben ein eigenes Zeitgefühl. Genauer gesagt, spielt Zeit keine große Rolle. Man nimmt sich einfach die Zeit, die man braucht. Sei es für eine Arbeit oder sei es für einen Schwatz mit dem Nachbarn. Zeit miteinander verbringen ist wichtiger als Zeit gewinnen. Das ersetzt jeden Psychiater.
Das Zauberwort heißt: chalará - Gelassenheit - die Dinge auf sich zukommen lassen. Geprägt von einer Vergangenheit, in welcher nichts sicher, nichts zuverlässig und alles immer auf einen Schlag verloren sein konnte, lernten die Menschen, den Moment auszukosten.Alles findet in der Gegenwart statt und nur das ist von Bedeutung. Die Ikarioten haben eine ausgeprägte Fähigkeit, sich mit ganz wenig zufrieden zu geben und das Leben trotz all seiner Entbehrungen zu genießen. Zeit kann man genießen, verschenken, stehlen, totschlagen oder verschwenden. Zeit hat immer genau die Bedeutung, die man ihr zugesteht. In unserer schnelllebigen Gesellschaft ein Unding. Wir haben gar keine Zeit mehr! Zeit macht uns krank.
In Ikaria wird man uralt
Das hört man immer wieder: die Insel, wo die Menschen vor lauter Lebensfreude zu sterben vergessen!
Der langsame, orientalische Lebensrhythmus der Einwohner Ikarias ist legendär! Man trifft hier viele „alte“ Menschen, die sehr vital und selbstständig sind. Wenn ich in Athen auf die Frage, wo ich wohne, antworte, kommt es wie aus einem Munde: „Ah, da wo alle hundert Jahre alt werden!“ In Griechenland wurde in den Medien viel darüber berichtet, ja sogar auf der ganzen Welt!
Genau so wenig wie Zeit, spielt das Alter eine Rolle, denn es ist nur eine andere Art, Zeit zu messen. Die Lebenszeit, intensiv gelebte Zeit, sich Zeit für das Wesentliche nehmen, ist gewonnene Zeit. Das ist, wenn du mich fragst, vielleicht das Geheimnis der Insel der Langlebigen.
Dieses Im-Moment-leben und dieses No-Stress-Feeling der Einheimischen haben es in sich. Die alten Menschen (genauso wie die Kinder übrigens), sind stark eingebunden in die Gesellschaft und immer und überall dabei, also kein Grund, sich alt und überflüssig zu fühlen.
Ein Leben nach der Sonnenuhr
In Ikaria lebt man noch nach der Sonnenuhr. An einem Ort, wo die Rhythmen der Natur den Alltag bestimmen, kein Wunder. Das Paradebeispiel ist natürlich das Bergdörfchen Christos-Raches auf 450m ü.M., das Zentrum von Westikaria. Das zu Raches gehörende touristische Badeörtchen Armenistis ist eigentlich nur eine Sommersiedlung der Bergbewohner. Viel wurde über Christos-Raches geschrieben, das Fernsehen drehte Dokus, landesweit ist es als eine Art Asterix-Dorf zu Berühmtheit gekommen.
Das Dorf, das anders tickt, ein wenig verrückt die Einwohner, liebenswert und eigen. Alle schlafen tagsüber und feiern die ganze Nacht, so das gängige Klischee. Stimmt natürlich nicht. Aber die Geschäftszeiten sind wirklich ungewöhnlich. Am schönsten ist es um die griechische Mittagszeit, also zwischen 12:00 und 15:00 Uhr, unter den riesigen schattigen Platanen mitten auf dem Dorfplatz einen Kaffee zu trinken und den Griechen beim Tavli zuzusehen. Kaffee und Süßes gibt´s im Kafenion, Frauen kaufen ein, die Kinder schlendern nach Schulschluss laut schnatternd durch die Platia. Danach ist Siesta und das Dorf ziemlich ausgestorben. Christos Raches ist noch ein typisches echtes Bergdorf, das von Griechen lebt, weitab vom Tourismus.
Abends nach Dunkelwerden, ich betone Dunkelwerden, denn man richtet sich hier nach der untergehenden Sonne und nicht nach einer bestimmten Zeit, lohnt sich ein Besuch. Ganz besonders im Hochsommer, denn dann erwacht das Dorf erst richtig zum Leben. Überall ist es laut und lebendig, voller Griechen. Man isst in den Tavernen, trinkt Tsipouro, den einheimischen Selbstgebrannten, in den kleinen Ouzerien und Bars. Kleine Kinder spielen Fangen zwischen den Tischen, sogar einkaufen kann man noch in den zahlreichen kleinen Geschäften bis in die späte Nacht. Für die Jungen und Junggebliebenen geht´s dann nahtlos weiter in den Cocktailbars bis zum Sonnenaufgang.
Warum in Ikaria die Uhren anders ticken
Diese Art, mit der Zeit anders umzugehen, kannst du in Christos-Raches noch ganz unverfälscht erleben. In den kleinen Kaffees oder Tavernen kannst du stundenlang einfach sitzen, ohne ständig gefragt zu werden, ob du noch etwas bestellen möchtest. Es gibt keinen Konsumzwang und die leeren Teller werden auch nicht weggeräumt. Das wäre für die Ikarioten ein No-go, käme einem Rausschmiss gleich. Der Gast bestimmt selbst, wie viel Zeit er hier verbringen möchte.
Genauso lange kann es auch dauern, bis ein Gast bewirtet wird. Das hat nichts mit Faulheit oder Nachlässigkeit des Wirtes zu tun, sondern eher mit seinem eigenen Gutdünken, den Gast erst einmal ankommen zu lassen. „Schlecht fürs Geschäft“ magst du einwenden, aber hier gilt eben nicht der Satz „Zeit ist Geld“ sondern eher „Zeit ist Leben“. Zeit erhält, wie schon erwähnt, eine ganz eigene Dimension und man darf sie ohne Schuldgefühle auskosten. Vielleicht ist dies der Kern-Gedanke, der die Ikarioten so „Eigen“ macht und ihnen ein langes, wenn auch einfaches Leben beschert, denn sie wissen, Zeit ist wertvoller als Geld, sie ist unwiederbringlich.