Zwischen den zerklüfteten Bergen im Norden von Karpathos verstecken sich einige Dörfer, in denen sich Traditionen bewahrt haben, die man sonst nirgendwo mehr in Griechenland findet.Besonders die Bewohner von Ólymbos und Diafáni pflegendie alten Sitten und Gebräuche, auch im Alltag. Eine Bäckerei sucht man hier vergeblich, denn Brot und andere Teigwaren werden wie zu Großmutters Zeiten im Steinofen gebacken. Bei ihrer täglichen Arbeit tragen viele der verheirateten Frauen ihretraditionelle Tracht – nicht für die Touristen, sondern aus Überzeugung.
Ólymbos liegt etwas eingeklemmt zwischen den schroffen Bergkegeln von Profíti Ilías und Korifíund ist das ganze Jahr über heftigen Winden ausgesetzt. Schon im Mittelalter klebten die Häuser mit erdfarbenen Mauern am Berghang, um nicht von der Seeseite entdeckt zu werden. Heute strahlen die weißgetünchten Häuser, mit ihren liebevoll verzierten Balkonen, hell in der Mittagssonne.Ähnlich einem gigantischen Amphitheater ziehen sich die Häuser den Hang hinauf. Unterhalb dieser verschachtelten Häuserwand sieht man terrassenförmige Gartenanlagen und dazwischen ein Bach, der das Tal auch im Sommer grün hält. Ólymbos ist eins der eindrucksvollsten Dörfer in ganz Griechenland. Es war einst nur der Fluchtort für die Bewohner von Trístomo und Wurgúnda, wurde aber im Laufe der Jahrhunderte immer größer und eigenständig. Die vielen verfallenen Windmühlen lassen erkennen, wie groß dieses Dorf in seiner Blütezeit gewesen sein muss. Noch in den 50er Jahren sollen es mehr als 3000 Einwohner gewesen sein, aber dann setzte die große Auswanderungswelle ein und viele Familiengingen nach Amerika, Kanada oder auch nach Deutschland. Heute wohnen noch ca. 350 Menschen in Ólymbos. Aber im Sommer, besonders wenn die großen Kirchenfeste anstehen, kommen viele Auswanderer zurück in ihre Dörfer. So füllt sich dann auch Ólymbos mit fröhlichem Leben und erinnert an die früheren Jahre.
Eines der größten Feste in Griechenland ist Maria Entschlafung, am 15. August,und besonders in Ólymbos wird es ausgiebig gefeiert. Da reicht ein Tag bei weitem nicht aus.Schon am Vorabend findet ein Gottesdienst statt, in der kleinen Panagía-Kirche, die der Entschlafung der Gottesmuttergeweiht ist. Nach wie vor stehen in der Kirche Männer und Frauenin getrennten Bereichen. Auch viele „Amerikaní“,die zum Fest ausNew York oder Baltimore in ihr Dorf gekommen sind, füllen die festlich geschmückte Kirche.Ein Stapel riesiger, runder Brotlaibesteht mitten in der Kirche und wartet darauf, von Papá Jiánnis, dem Dorfpfarrer von Ólymbos, geweiht zu werden. Es ist das Ártos, das „heilige Brot“, von den Frauen des Dorfes nach uralter Tradition im Steinofen gebacken und mit religiösen Stempelmotiven bedruckt. Ein kleines Mädchen wandert unbeschwert um den Brotstapel herum und findet offenbar Gefallen an der feierlichen Zeremonie. Am Ende der Messe wird das Ártos in Stücke geschnitten und an die Gemeinde verteilt.Anschließend wird es zu HauseimFamilienkreis gegessen.So geht der Vorabend des Festes zu Ende. Am nächsten Morgen trifft man sich dann, festlich gekleidet, zur Morgenmesse.Und erneut werden riesige Brotlaibe zur Weihe in die Kirche getragen.
Am heutigen Festtag tragen die Mädchen und die jungen Frauen die Stolí, die traditionelle grell-bunte Festtagstracht, und es wird der gesamte Familienschmuck zur Schau gestellt. Fast protzig wirken die breiten Ketten, die Kollínes, mit den vielen Goldmünzen. Während sichauf dem Platz vor der Kirche Familien und Freunde begrüßen, feiert Papá Jiánnis drinnen noch die Messe. Jetzt warten alle darauf, dass endlich die heilige Panagía-Ikone aus der Kirche getragen wird und vor der Festtagstafel auf der Platía aufgebaut wird.Dann ist es endlich soweitund mit dem Verteilen von Brot,frischen Früchten und kleinen Schnäpsen erreicht das Fest einen ersten Höhepunkt. Ein kleiner Chor, leider nur noch zwei Männer, singt freudig und lautstark Kirchenlieder. Und auch Papá Jiánnis schaut an diesem Morgen sehr zufrieden aus. Um die Mittagszeit gibt es im Gemeindesaalein Festmahl, zu dem alle eingeladen sind, auch die Touristen. So langsam wird es dann ruhiger im Dorf, bis sich am frühen Abend die Männer auf der Platía treffen und das Fest einen ganz anderen Charakter bekommt.Jetzt wird Musik gemacht, mit Lýra, Laúto und der dudelsackähnlichen Tsamboúna. Die Männer von Ólymbos sitzen rund um einen Tisch und singen die Mantinaden. Das sind spontan vorgetragene Reime aus dem Leben,über Glück und Trauer, aber auch lustige Verse sind dabei. Diese Mantinaden haben eine lange Tradition. In den oft emotionalen Texten werden persönliche Erlebnisseverarbeitet und geteiltund die Umhersitzenden singen dann gemeinsam den Refrain. Dabei will man auf keinen Fall gestört werden.Es gibt Mantinaden, die allgemein bekannt sind und auf fast jedem Fest gesungen werden. Aber je später der Abend,desto mehr werden sehr persönliche Erlebnisse besungen und umso emotionaler werden die Texte. Manólis Balaskás, der bekannte Laútospieler aus Diafáni, sagte mir einmal: „Bei den Mantinaden wird mehr geweint als auf dem Friedhof“.Whiskey und Oúzo fließen jetzt in Strömenund mit dem Ausklingen der Mantinaden beginnt der Tanz.Mit Beginn der Tänze findet auch eine regelrechte Brautschau statt. Die unverheirateten Frauen zeigen mit ihren Goldketten den Reichtum, den sie in eine Ehe einbringen können. Heiratsfähige Söhne, zum Fest angereiste Auswanderer und künftige Schwiegermütter, sie alle schauen sich genau an, was zur Zeit auf dem Marktplatz gezeigt wird. Und von den jungen Mädels kann man sich ja schon mal die eine oder andere vormerken. Die standesgemäße Heirat wird auf Karpathos auch heute noch gepflegt. Gerne wird die Auswahl der Partner von den Familien arrangiert. Sie sollten wenn möglich aus der Nähe sein, oder zumindest ihre Wurzeln auf der Insel haben.
Ungefähr um Mitternacht wird die Stimmung dann ausgelassener.Die Musiker sitzen mittlerweile mit den Stühlen auf den Tischen. So werden sie besser gehört und es gibt mehr Platz zum Tanzen. Denn jetzt geht es deutlich schneller ab als zu Beginn des Festes. Prallvoll ist die Platía jetzt. Der Tanzkreis wälzt sich mühsam zwischen den Stuhlreihen und den umherstehenden Zuschauern hindurch. Und der Tänzer, der den Reigen anführt, hat Mühe, seine akrobatischen Sprünge auszuführen. Selbst auf den umliegenden Dächern stehen Leute und feiern mit. Die Musik ist laut, monoton, ja fast ekstatisch. Besonders der Tsamboúnaspieler bläst kräftig in seinen Ziegensack und muss dabei richtig arbeiten. Die Musiker wechseln sich daher gelegentlich ab. Manchmal bekommensie einen Geldschein zugesteckt und immer wieder hält man ihnen das Whiskeyglas an die Lippen – alles ohne Unterbrechung der Musik. Und so geht es weiter, ausgelassen und unermüdlich, bis zum frühen Morgen. Gegen halb vier habe ich mich gewundert, dass noch immer so viele Kinder dabei sind und müde aufgegeben.Gut, dass mir Nikos Filipákis, vom Hotel Aphrodíti, noch ein Zimmer frei gehalten hat. Mein Hotel liegt nicht weit von der Platía. Ich höre die Musik und in meinem Kopf laufen die Bilder der letzten Tage ab. Ich sehe Frauen, die schwatzend am Steinofen Brot backen, Männer, die mit feuchten Augen Mantinaden singen und junge Frauen, die stolz ihre Trachten tragen – so, wie früher ihre Mütter. Traditionspflege in Ólymbos: wie gut, dass es das noch gibt!