Auf unserer Peloponnes-Rundfahrt sollte natürlich Mykene nicht fehlen und so entschlossen wir uns, am nächsten Morgen diese Ausgrabungsstätte zu besuchen. In den frühen Morgenstunden fuhren wir los, um nicht in der heißen griechischen Mittagssonne auf dem Hügel mit den kyklopischen Mauern unsere Besichtigungstour zu unternehmen. Als wir am Rande der Argolis ankamen, scharrten sich schon unzählige Busse, die aufgereiht waren wie auf einer Perlenkette, vor dem niedrigen Hügel.
Fast ein wenig winzig wirkte er bei so imposanten historischen Ereignissen, die sich hier abgespielt haben sollten. Ich hatte mir den Schauplatz, den Agamemnon und seine Sippe für ihre Familienfehden ausgesucht hatten, größer vorgestellt.
Zunächst wandert man die kleine Anhöhe hinauf, um das bedeutende Löwentor zu durchschreiten. Anmutig wie einst stehen die beiden 3 m hohen Löwen sich gegenüber und strahlen weit über die Ebene Macht und Erhabenheit aus. Unwillkürlich denke ich an das Bild von 1876, wie Schliemann auf der Mauer thronend und seine griechische Frau Sophia auf dem Stein vor dem Tor sitzend, fotografiert werden. Das Wahrzeichen der Mykenischen Kultur, ausgegraben von einem Deutschen, der mit Mut, Kraft und viel Liebe zur griechischen Geschichte, seine Träume in die Tat umsetzte. Und das alles ausgelöst von einem Buch über griechische Mythologie und einem Bild des brennenden Troja.
Sobald ich durch diese Schwelle der Atriden in den Innenbereich trat, durchflutete mich das Gefühl einer unsagbaren Trauer, einer beklemmenden Furcht. Unwillkürlich schaut man auf die großen inzwischen sehr glatten Steinformationen, auf denen man hinaufläuft und fragt sich, wie es wohl ausgesehen haben mag, als Klytämnestra sie mit kostbaren roten Teppichen auslegen ließ, als ihr Gemahl nachhause kam. Stille umgibt mich, Wind kommt herüber vom Agios Ilias, der schon seit Jahrtausenden über die Berge weht und dessen nicht müde wird. Man vernimmt keine Menschenstimmen, kein Lachen, selbst Vögel hört man nicht, als sei dieser Hügel selbst heute noch andächtig dessen, was sich hier vor über 2000 Jahren abspielte.
Wir schlendern über die befestigten Wege, ich sehe rechts hinab zu dem Gräberrund und erblicke den Getreidespeicher. Unendlich viel ist von alldem nach dem großen Brand in Mykene nicht übriggeblieben.
Mykene besticht nicht durch Glanz, durch Erhabenheit oder gar einer Großartigkeit an noch sichtbarer Architektur. Es ist nicht wie Delphi, wo immer ein Hauch des Orakels in der Luft des Parnass schwebt. Man kann es nicht vergleichen mit Olympia, wo die Olympischen Spiele, das Olympische Feuer, der Inbegriff des Körpers und seiner Grenzen im Vordergrund stehen.
Selbst Epidaurus mit seinem herrlichen Theater, eine Stätte der Kunst und Ethik, hält keine Parallelen zu Mykene bereit. Mykene fällt aus dem Rahmen, aus dem griechischen geistigen Rahmen.
Die Burg des Agamemnon betört durch menschliche Züge, durch Intrigen, durch Mord und Totschlag. Überall glaubt man, sei der Boden noch von Blut getränkt, imaginäre Frauenstimmen hallten über den Hügel. Man erkennt menschliche Züge an den alten Griechen, an den Denkern und Philosophen.
Hier spielte sich der Ehebruch der Klytämnestra mit Aigisthos ab. Kann man es ihr verdenken, so viele Jahre weilte ihr Mann Agamemnon vor den Toren Trojas als der Mächtigste unter den Griechen, opferte sogar Iphigenie, die gemeinsame Tochter. Doch dessen nicht genug, stach er seine Frau mitten ins Herz, als er mit der jungen Kassandra, der Seherin von Troja, nachhause kam. Fast turtelnd wie ein Jüngling besiegelte er somit selbst seinen Tod.
Klytämnestra und ihr Liebhaber entsorgen den unliebsamen Ehegatten in dem wohl bekanntesten Badewannenmord der Geschichte. Dem nicht genug, töten die Kinder Orestes und seine Schwester Elektra die Mutter und den Geliebten. Schließt man die Augen, erlebt man zunächst die unsagbare Stille des verwunschenen Ortes, doch im nächsten Augenblick hört man sie singen, die Erinnyen, die Rachegöttinnen jener Zeit mit ihrem eindringlichen Gesang, die Orestes, den Muttermörder, nicht eher ruhen ließen, bis er vor dem Aeropag in Athen freigesprochen wurde.
Man sieht viele kleine Wege, kleine Räume, Winkel und Wege, die in Schluchten führen, die teilweise gesperrt sind und immer wieder stößt man auf die dicken Mauern der Burg.
Abgeschottet von drei Seiten, dem Agios Ilias, dem Sara und der Kokoresta-Schlucht, ist die Burg nur von Westen zu betreten. Gut geschützt trotzt sie ihren Widersachern, ihren Gegnern und Feinden. Zur Strecke gebracht hat letztendlich das menschliche Schicksal die Bewohner dieser Burg und der Fluch des Thyestes. Als ich das Argivische Meer in der Ferne suche, denke ich an all diese Tragik dieses Ortes, an die Menschen, die so menschlich waren wie in unserer Zeit und genau das ist beinahe einzigartig. Das Schicksal dieser Burgbewohner macht betroffen, nicht das, was sie geschaffen haben für die Nachwelt, keine philosophischen Texte, keine bahnbrechende Rekorde, sondern ihre menschlichen Gefühle, ihre Wut, ihr Hass, ihre Liebe, ihre Angst und nicht zuletzt ihr Gewissen.
Wer Hellas mit der Seele sucht, sollte auf jeden Fall Mykene besuchen, nirgends erfährt man mehr über die menschliche Seite der „alten Griechen“.