Die Kykladeninsel Naxos boomt – und mit ihr das touristische Wandern
„Ise trellos – bist du verrückt ?“ , so lautete die meist gestellte Frage meiner griechischen Freunde Ende des Jahres 2000, als ich Ihnen kundtat, im Frühjahr des kommenden Jahres eine 14-tägige Wanderung für eine Gruppe deutscher Wanderfreunde anzubieten, 160 Kilometer insgesamt, in 12 Etappen rund um die ehemalige griechische Hauptstadt Nauplia unter Einbeziehung so berühmter historischer Stätten wie Mykene oder Epidaurus. Die 27 Wanderer waren hernach hochzufrieden bis beglückt, die Griechen schüttelten nach wie vor ungläubig ihre Köpfe. In einem „armen Land“, das bis heute mehr aktuell zugelassene Kraftfahrzeuge als lebende Einwohner zählt, vielleicht verständlich, zu mindestens aber Fakt.
Eine Ausnahme macht da auch Naxos nicht, die größte Insel der Kykladen, zu denen so berühmte Eilande wie Santorini oder Mykonos gehören. Das Auto ist hier allgegenwärtiges Statussymbol und verstopft gnadenlos die Sträßchen und Gassen der Insel, für Fußgänger oftmals gemeingefährlich. Der „gemeine Grieche“ geht keine hundert Meter zu Fuß, wenn er nicht muss oder dazu gezwungen wird. Neben den malerisch herrlichen Landschaften der Insel vom Sanddünenparadies mit nur hier anzutreffenden subtropischen Nadelhölzern bis hin zum zerklüfteten subalpinen Berg-Eldorado ist ihren Bewohnern, den Naxioten, aber auch eins oftmals gemein: die Bauernschläue. Damit haben sie dann festgestellt, dass mit der „Wanderwut“ der „verrückten Touristen“ gar treffliche Geschäfte zu machen sind. So kamen dann Verwaltung und Tourismusorganisationen der Insel so um das Jahr 2000 auf die Idee, die alten Eselpfade und Pilgerwege ein wenig zu „entstauben“ und, mit einigen Markierungen versehen, als Wanderwege anzubieten. Ein Versuch, der recht positiv anzuschauen ist, aber bis heute als nur wenig gelungen gelten darf.
Wandern auf Naxos ist in keiner Weise mit den Begehungen von gut ausgeschilderten und gepflegten Wanderwegen unserer heimischen Landschaften zu vergleichen. Es gibt zwar zwei Bücher mit durchaus gut beschriebenen Wandervorschlägen und auch eine recht liebevoll aufgemachte Wanderkarte, beide berücksichtigen aber nicht die zuvor beschriebene Tatsache, dass die Einheimischen vom Wandern überhaupt nichts halten. Da wird dann schon einmal ein Ziegengatter quer über dem Wanderweg errichtet und mit meterhohem Zaun so umgeben, dass es den Wanderfreund zum Umkehren zwingt. Oder es wird ein neues Feld über den Weg angelegt, das dann dazu verhilft, die weitere Orientierung völlig zu verlieren.
Das Wandern durch Naxos´ traumhafte Gebirgslandschaften muss man somit eher als Trekking bezeichnen. Wer neben einem guten Orientierungsvermögen auch noch viel Mut aufbringt, sich in unbefestigtes Gelände zu begeben, das jederzeit in einer „Sackgasse“ vor unüberwindbaren Fels- und Geröllwänden oder steilen Abgründen enden kann, wird dann reichhaltig dafür belohnt. Kaum ist der Kontakt zum letzten Bergdorf verloren, fühlt sich der Wanderer zurückversetzt in längst entflohene Jahrhunderte. Hindurch durch meterhohe Hohlwege, mit Marmorplatten ausgelegte Pilgerpfade, Haine mit hundert Jahre alten Olivenbäumen, auf Eselpfaden durch ebenso staubtrockene wie duftende kniehohe Kräutergebüsche: Natur, Natur und noch einmal Natur pur. Hunderte von Eidechsen und Schmetterlingen, gänzlich unbekannte Wildblumen und dann aus dem nichts ein kleiner Wasserfall oder eine erfrischende Quelle. Alternativ kann man sich einer der professionell geführten Gruppenwanderungen anschließen oder sich, wie viele meiner Freunde, durch GPS absichern, was zwar auch nicht alle Hindernisse erkennt, aber zumindest zur Orientierung im offenen Gelände beitragen kann. Beides nichts für mich, weder fühle ich mich in einer „Herde“ besonders wohl, noch ist es mir möglich, ausgefeilte digitale Technik und Natur miteinander zu verquicken.
Und so schildere ich nun gerne vier Wandervorschläge, die ich persönlich ausprobiert habe, ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, aber mit einem guten Überblick, was alles sich dem Wanderfreund auf der größten Insel der Kykladen anbietet. Von einfach bis schwer – von der Barfußwanderung bis hin zur subalpinen Klettertour.
Mein erster Vorschlag richtet sich an solche Menschen, die lange nicht mehr zu Fuß gegangen sind und mit nachhaltigen Eindrücken etwas für ihr Wohlbefinden tun wollen. Wir möchten barfuß wandern und dabei etliche, ständig wechselnde Facetten der ägäischen See erkunden. Die Wanderung beginnt in Chora, der Inselhauptstadt, wo auch die meisten Touristen ihre Quartiere haben, und führt zu den Traumstränden von Prokopios, Agia Anna oder Mikri Vigla über eine Gesamtdistanz, je nach Ziel von etwa 5 bis etwa 15 Kilometer. Gut 90 Prozent der Strecke verläuft über feinsten Sandstrand, wobei einige nur maximal knietiefe kleine Lagunen zu überwinden sind. Nach dem Stadtstrand von Agios Georgios führt der Weg über den Surfer-Club Flisvos und eine wilde Dünenlandschaft bis hin zur Kreuzung der beiden Fahrstraßen nach Prokopi oder Stelida. Gleich welche der beiden Routen der Wanderer wählt, hier ist nun ein knapper Kilometer auf einer wenig befahrenen Straße zurückzulegen. Der direkte Weg nach Prokopios ist kürzer und ab hier kann man nun ununterbrochen die Sandstrandroute bis zu seinem Ziel nutzen. Von der Straße nach Stelida führen diverse Lehmpfade wieder ans Meer, ich empfehle aber die Strecke bis zum Endes des Dorfes. Nun immer den nächsten Zielpunkt in direktem Blick, finden wir hier zwei unberührte kleine Badebuchten und danach eine karstige „Mondlandschaft“, wo sich an einem Felsen im Meer ein wohl vor ein paar Jahrzehnten untergegangener kleiner Frachter „festgebissen“ hat und nun bugaufwärts aus diesem Felsvorsprung herausragt. Auf diesem Weg hat man dann auch eine ausgezeichnete Aussicht auf die „gegenüber liegende“ Insel Paros. An einem der Zielorte schließlich angekommen, laden vielfältige Tavernen zur Stärkung und Einkehr ein. Die Bademöglichkeiten auf der Gesamtroute sind unbegrenzt.
Meine beiden nächsten Wandervorschläge haben es dagegen bereits „in sich“. Mit dem Bus mache ich mich auf ins Bergdorf Apiranthos, ab Chora eine gute Stunde Fahrt. Von dort aus, wo sich die kleinen Häuser am senkrecht anmutenden Bergmassiv „aufgehangen“ haben, möchte ich zurück nach Filoti wandern. Die Strecke von Filoti nach Apiranthos erinnert mich mehr an Alpen oder Pyrenäen als an eine griechische Insel. Bewusst, dass größere Markierungshilfen auf diesem Weg nicht zu erwarten sind, habe ich mir auf der Hinfahrt einige markante Punkte gemerkt, die, wenn ich sie erreiche, mein sicheres Zurückfinden garantieren sollen. Immerhin ist der Einstieg in diese Wanderung ausgeschildert. Das war´s dann aber auch schon an Orientierungshilfen. Mir bleiben einzig und alleine zwei Sendemasten auf einem höheren Berg oberhalb der Fahrstraße und eine alte Windmühle, die ich mir ebenfalls gemerkt habe, die aber am Ausgangspunkt meiner Wanderung noch nicht zu sehen ist, als Orientierungspunkte. Es geht auf zunächst noch breiteren Wegen, die sich immer mehr zu Eselpfaden verengen, durch eine schöne fruchtbare Ebene mit kleinen Wasserläufen. Immer wieder verirre ich mich, weil diese Pfade durch Gatter versperrt sind oder einfach irgendwo im Gestrüpp aufhören. Dann endlich sehe ich meine Windmühle, die übrigens ein Kafenion beinhaltet, und habe wohl mit Erreichen der Fahrstraße nach etwa zwei Stunden die Hälfte der Strecke bewältigt. Auf der Höhe der gegenüberliegenden Straßenseite dann ein schönes Hinweisschild, das auf den weiteren Weg nach Filoti mit einer Gehzeit von nur 35 Minuten weist. Der Pfad ist gut von oben einsehbar und mutet, schmal durch steil abfallendes Geröll, direkt abenteuerlich an, und trotz der Hitze fröstelt es mich leicht, diesen unter die Füße nehmen zu wollen. Ich bin daher auch nicht sehr unglücklich, dass der Eselpfad bereits nach 200 Metern durch ein Schaf- und Ziegengehöft mit einem drei Meter hohem Zaun unumgehbar versperrt ist und zusätzlich durch bös kläffende Köter abgesichert wird. Bleibt mir also für den Rückweg nur die Gott sei Dank nur wenig befahrene Straße, die sich auf etwa 8 Kilometer in Serpentinen nach Filoti hinunter windet. Entschädigt werde ich durch phänomenale Aussichten auf die alpine Gebirgslandschaft und die Eilande in der ägäischen Nachbarschaft. An dieser Straße finden sich nun Mitte September vielleicht 100 voll tragende Feigenbäume, deren zuckersüße Früchte nicht nur einen unglaublichen Duft verströmen, sondern die darüber hinaus sogar noch besser schmecken. Etwa zwei Kilometer vor Filoti sehe ich einen Überlandbus. Wie in Griechenland üblich, winke ich, der Fahrer hält am Abgrund auf offener Strecke, begrüßt mich freundlich, und nimmt mich gerne mit.
Wie Inselbewohner, (woher haben sie die Erfahrung?) und wandernde Touristen gleichermaßen behaupten, soll die Wanderung von Chalki nach Moni eine der schönsten überhaupt sein. Das Bergdorf Moni ist so abgelegen, dass nach dort praktisch keinerlei annehmbare Busverbindung existiert, und so ist diese Wanderung mit etwa 12 Kilometern Länge als Rundwanderweg ausgelegt. Beide Wanderführer beschreiben die Strecke als besonders gut ausgeschildert, das Gegenteil ist aber der Fall. Richtig ist es, ein paar hundert Meter auf der Fahrstraße nach Filoti zurückzulegen, und nach dem Feuerwehrhaus findet sich dann links tatsächlich das Einstiegsschild nach Kaloxilos, dem ersten Dorf auf der Strecke. Ich traue kaum meinen Augen, denn auch hier gibt es tatsächlich noch zwei weitere Hinweisschilder in Richtung Moni. Die Wanderrichtung habe ich zudem „im Kopf“. Uralte mit Marmor ausgelegte Pilgerpfade faszinieren so, dass es mir nichts ausmacht, von nun aus keine Markierung mehr zu finden. Etwa eine Stunde durchschreite ich derart faszinierende Landschaften, dass mir nichts übrig bleibt, als mich orientierungslos der Natur auszuliefern. „Rien ne vas plus – nichts geht mehr“, muss ich dann aber nach einer guten Stunde weiterer Gehzeit erkennen. Undurchdringbares Gestrüpp, Gatter über Gatter, ein hoher Felsen rechts, hohe Sicherungsmauern am Abgrund links – das war es dann wohl. Es bleibt nur der Rückweg, und doch fühle ich mich durch dieses Abenteuer so genährt, dass ich eher tief befriedigt als missvergnügt bin.
Dennoch bin ich mehr als froh, auf dem Rückweg endlich einen Lehmpfad zu erreichen, wo dann auch noch ein Auto steht. Dem Bauern, dem dieses Fahrzeug wohl gehört, erkläre ich mein Missgeschick. Er lacht. Noch 50 Meter, so erklärt er mir, rechts, dann kannst du den Weg nach Moni nimmermehr verfehlen. Und in der Tat. Da findet sich sogar wieder ein Wegweiser. Die nächste Dreiviertelstunde, steil hinauf ins Bergdorf, wird mir unvergesslich bleiben. Ein felsiger Bergweg, ebenso steil wie gut begehbar, mittelalterlich, ohne jegliche Störung durch Telefonmasten oder sonstigen zivilisatorischen Kram, kein Geräusch, außer dem Singsang der Vögel und Grillen, kleine Quellen und Rinnsale, ab und zu eine Maus oder Eidechse, Stille, Wahrnehmung pur! So erreiche ich schließlich Moni und genieße dort den berühmten griechischen Joghurt mit frischen Früchten aus der Region. Der Rückweg führt dann über die Panagia Drossiani, eine kleine Wallfahrtskirche mit großer geschichtlicher Tradition. Erbaut im 4. nachchristlichen Jahrhundert ist sie wohl eines der ältesten christlichen Gotteshäuser in ganz Europa und noch berühmter sind nur die Sagen und Anekdoten, die sich um sie ranken.
Bleibt als Höhepunkt einer jeden Wanderung auf Naxos noch die Besteigung des Zas. Um ehrlich zu sein, habe ich sie zum letzten Mal vor drei Jahren gewagt. Es gibt zwei Routen. Die leichtere: Von Agia Marina (hier hält auf Wunsch auch der Inselbus) und auf 590 Höhenmetern zeigt sich dann auch die zugehörige Kapelle, geht es in einen langen, steinigen Hohlweg. Auf Metallplättchen mit einer „2“ wird der Weg bis zur einzigen Wasserstelle gelegentlich markiert. Da diese von den Ziegen oft verschmutzt wird, ist sie als Trinkwasserquelle aber ungeeignet. Einen guten Liter Wasser sollte man demnach in jedem Fall neben Wetterkleidung und trittfesten Bergschuhen auf diese Besteigung mitnehmen. Auf Kehrwegen geht es dann durch das Reich der Phrygane und das Futterlager einer ehemaligen Kalkofenbrennerei über steile Geröllfelder zum Gipfel, von wo aus sich auf 1.060 Meter Höhe ein phänomenaler Blick auf die Inselwelt der Kykladen werfen lässt. Statt Gipfelkreuz wie bei uns, begrüßt die Bergsteiger dort ein quadratischer Betonklotz. Steiler und schweißtreibender ist noch die Alternativroute über die Zeushöhle. Da gibt es dafür einige Quellen mit frischem Trinkwasser, ein absoluter Genuss bei den zumeist herrschenden Hitzetemperaturen verbunden mit den Anstrengungen des Aufstiegs. Die Besteigung des Zas, für „Gipfelsammler“ ein absolutes Muss, ist etwa vierseitig in den verschiedensten Naxos-Publikationen so detailgenau beschrieben, dass sie wirklich gut zu nutzen sind, wesentlich besser als mein kleines „Appetithäppchen“ hier, das nur bei der Frage „Wollen wir oder nicht?“ helfen soll.
Naxos glänzt also nicht nur mit idealen Bademöglichkeiten, es ist auch ein Eldorado für Wanderfreunde jeglicher Couleur. Hinzu kommt, dass die Insel noch so griechisch ist, wie Hellasfreunde es vor 20 oder 30 Jahren liebten. Echt griechische Spezialitätenküche zu moderaten Preisen, lauschige Tavernen, lebendige Gastfreundschaft. Dafür schwer zu erreichen. Wer sich nicht den mehr als üppigen Preisen der Olympic Air unterwerfen will, die zudem nur ein ganz schwaches und auf wenige Möglichkeiten beschränktes Angebot offeriert, muss die 109 Seemeilen von Piräus oder Rafina mit der Fähre zurücklegen. Es kostet Zeit, in der Regel 20 – 24 Stunden von Deutschland aus. Das ist auch gut so. Die Insel durchlebt derzeit einen nie zuvor erreichten Touristenboom. Viel zu viel, als dass Naxos auch in den kommenden Jahren ein Ziel für Individualisten bleiben kann.